Der Kardiologe und die KI
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In letzter Zeit wird viel darüber diskutiert, wie die Medizin, Patienten und Ärzte von Künstlicher Intelligenz profitieren können. Tatsächlich unterstützt KI bereits Klinikärzte und Bürger. Zertifizierte Algorithmen, die den kardiologischen Leitlinien entsprechen, haben das Vertrauen der Ärzte gewonnen und unterstützen ihre tägliche Arbeit. Einer dieser Algorithmen hilft bei der EKG-Analyse. Das folgende Interview mit Rafał Samborski, dem Vorstandsvorsitzenden von Cardiomatics, befasst sich mit der Rolle der KI in der Kardiologie.

Heutzutage finden die meisten KI-basierten Lösungen Anwendung in der Kardiologie. Kann KI möglicherweise die Prävention und Diagnose von Herz-Kreislauf-Erkrankungen verändern?

Mehr als 1 Milliarde Menschen leben mit irgendeiner Form einer Herz-Kreislauf-Erkrankung. Den Statistiken der Weltgesundheitsorganisation zufolge sterben jedes Jahr 17,9 Millionen Menschen an Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Das sind 31 % aller Todesfälle weltweit! KI wird nicht 100 % der Probleme lösen, aber bereits eine Änderung um nur 1 % bedeutet, dass das Leben von Tausenden von Patienten gerettet und verbessert wird. Der Großteil der KI-Forschung im Bereich der Kardiologie konzentriert sich derzeit auf die Früherkennung, aber die Zukunft wird definitiv auch die Vorhersage und Prävention umfassen.

Aus Sicht der Patienten stehen bereits heute telemedizinische Plattformen zur Verfügung, mit denen der Gesundheitszustand eines Patienten zu Hause überwacht, die Zahl der Krankenhausbesuche reduziert und den Patienten das wichtige, beruhigende Gefühl gegeben werden kann, ständig betreut zu werden. KI hilft überdies Kliniken bei ihrer täglichen Arbeit und unterstützt Kardiologen bei der Optimierung der Patientenergebnisse, insbesondere durch den Einsatz von Algorithmen für eine präzise EKG-Analyse. Die Fortschritte auf diesem Gebiet sind beeindruckend. Im Jahr 2017 genehmigte die FDA die Verwendung von sechs neuen Algorithmen, und im vergangenen Jahr stieg diese Zahl auf 23, die meisten davon finden in der Kardiologie und Radiologie Verwendung.

Wie helfen Algorithmen Kardiologen bei ihrer täglichen Arbeit?

Die verfügbare Technologie ermöglicht es uns, Patienten rund um die Uhr mithilfe verschiedener Sensoren zu überwachen, und zwar sowohl im Krankenhaus als auch zu Hause. Sie werden immer kleiner und sind für Patienten jeden Alters einfacher zu handhaben. Das ist großartig – wir haben Diagnosemöglichkeiten, die vor einem Jahrzehnt nicht verfügbar waren, und die Patienten profitieren bereits von diesen technologischen Fortschritten. Und die offiziellen medizinischen Empfehlungen sind dieser Entwicklung gefolgt. Kardiologen sind verpflichtet, mehr Daten als je zuvor zu sammeln und zu analysieren. Algorithmen sind dafür da, um diese Aufgabe praktikabler zu gestalten.

Lassen Sie mich ein Beispiel geben. Wir haben beobachtet, dass Ärzte 30-60 Minuten für eine typische 24-Stunden-Langzeit-EKG-Untersuchung aufwenden. Durchschnittliche kleine kardiologische Kliniken führen jeden Monat 100 Stück davon durch. Größere kommen locker auf 500. Ein Algorithmus kann diese Zeit leicht auf ein paar Klicks in einer Webanwendung und das Lesen des Abschlussberichts verkürzen. Das spart mindestens 80 % der Zeit des Arztes ein. Außerdem geht es um die Patientensicherheit. Jedes weitere verfügbare Augenpaar sollte unbedingt genutzt werden, um bei Bedarf eine präzise und schnelle Diagnose zu stellen.

Und wie würden Sie einen erfahrenen Kardiologen davon überzeugen, der KI zu vertrauen?

Es gibt drei grundlegende Faktoren und Instrumente, die für den Aufbau dieses Vertrauens notwendig sind. Erstens können Sie eine Bewertung (Benchmark) eines Algorithmus veröffentlichen, der dem Branchenstandard entsprechende Datenbanken verwendet. Das zweite Instrument besteht darin, den Algorithmus in klinischer Forschung zum Einsatz zu bringen, die von anerkannten klinischen Einrichtungen durchgeführt wird. Aber schlussendlich ist es dann doch am zielführendsten, parallele Tests zu bestehen. Bei Cardiomatics ermutigen wir unsere Kunden dazu, ihre Aufzeichnungen bereits an Cardiomatics zu senden, während sie sie weiterhin mit herkömmlicher Software analysieren. Wir hatten noch keine Situation, in der sich eine Klinik nach dieser Probezeit nicht dafür entschieden hätte, mit uns weiterzuarbeiten.

Ganz im Gegenteil sind die Kliniken meist völlig überrascht von der Zuverlässigkeit der Algorithmen und der Genauigkeit der Analyse. Uns ist einfach noch nicht bewusst geworden, wie viele Fortschritte in letzter Zeit beim maschinellen Lernen gemacht wurden. KI wird zu einem vertrauenswürdigen Assistenten für Kardiologen. Ich glaube, dass ein Team aus KI und Kardiologen das Beste aus den medizinischen Wissenschaften und den jüngsten Errungenschaften des technologischen Fortschritts machen wird.

Wie reagieren Patienten, wenn sie erfahren, dass Computer und nicht echte Ärzte ihre Herzen überprüfen? Macht es Ihrer Erfahrung nach einen Unterschied für sie?

Dazu will ich Ihnen eine Geschichte erzählen. Vor einem Jahr besuchte ich einen unserer Kunden in der Schweiz, und er sagte mir, dass seine Patienten mit Cardiomatics eine vollständige Zusammenfassung der kardiologischen Beratung, einschließlich der Auslegung eines Langzeit-EKGs, per E-Mail erhalten, während sie sich nach dem absolvierten Termin noch auf dem Heimweg befinden. Vor Cardiomatics sahen sich die Patienten zu Tagen bangen Wartens verurteilt, bis die Beschreibung dann endlich fertig war. Meiner Erfahrung nach begrüßen Patienten den Einsatz von KI. Jeder Patient möchte sicher sein, dass alle verfügbaren Ressourcen eingesetzt wurden, um die richtige Diagnose zu stellen und die besten Ergebnisse zu erreichen. Wir reden hier nicht von der Frage, ob KI oder der Arzt zum Einsatz kommt; es geht vielmehr um einen mit KI ausgestatteten Arzt. Wir dürfen nicht vergessen, dass die letzte Entscheidung stets beim Arzt liegt – er teilt dem Patienten die Diagnose mit, er plant die Behandlung und er begleitet den Patienten während der Krankheit.

Ist die Interpretation von EKG-Signalen eine Art von medizinischer Kunst oder lediglich eine reine mathematische Analyse?

Wenn sie von einem Arzt durchgeführt wird, ist die EKG-Interpretation eine Funktion von Erfahrung, Regeln und Kunst. Es gibt sogar ein ziemlich beliebtes Buch zu diesem Thema mit dem Titel 12-Lead ECG: The Art of Interpretation (dt. 12-Kanal-EKG: Die Kunst der Interpretation).Wenn ein Mensch ein EKG interpretiert, sieht er eine Kurve. Das funktioniert also auf einer visuellen Ebene. Ein Algorithmus sieht anstelle eines Bildes einen Zahlenstrom, sodass die Aufgabe zu einem mathematischen Problem wird. Aber letztendlich können Sie ohne Kenntnisse des Fachbereichs keine effektiven Algorithmen erstellen. Dieses Wissen und die Erfahrung unseres medizinischen Teams sind ein Kunstwerk von Cardiomatics. Wir sollten dabei nicht vergessen, dass die Algorithmen zudem auf der Grundlage von durch Kardiologen erstellten Daten trainiert werden. Es besteht eine starke Korrelation zwischen der Erfahrung von Medizinern und maschinellem Lernen. Die Auslegung von EKGs ist ein wesentlicher Bestandteil des Entscheidungsprozesses und beeinflusst die nachfolgenden klinischen Schritte. Deshalb ist es so wichtig, dass die Analyse auch das kleinste Detail einbezieht.

Was sind die größten Bedenken in Bezug auf KI in der Kardiologie? Mit welchen Gegenargumenten antworten Sie auf diese?

Aus Sicht des Arztes wird die Sicherheit des Patienten immer oberste Priorität haben. Primum non nocere – erstens keinen Schaden anrichten. Es ist selbstverständlich schwierig, die Langzeitsicherheit von Instrumenten zu beweisen, die es noch nicht seit mehr als einem Jahrhundert gibt, wie das bei der manuellen Auslegung der Fall ist. Deshalb arbeiten wir mit Kardiologen und Experten auf dem Gebiet der KI zusammen, um die besten Ergebnisse zu garantieren.

Ein weiteres großes Problem sind Daten, die das Krankenhaus verlassen. Sie können ein effizientes KI-System nicht als eigenständige Software aufbauen. Ohne Internetzugang können Sie die Leistung der Google-Suche nicht nutzen. Eine typische IT-Umgebung in einem Krankenhaus verfügt über ein äußerst hermetisches System mit (vorzugsweise) keiner Verbindung zur Außenwelt. Glücklicherweise können Patienteninformationen mithilfe geeigneter Instrumente und Verfahren des Datenschutzes gespeichert und ausgetauscht werden, ohne dass dabei Bedenken hinsichtlich von Sicherheitsproblemen bestehen würden.

Diese Frage mussten Sie bestimmt schon oft beantworten: Wie präzise arbeiten die Algorithmen?

Ich kann Ihnen sagen, dass wir eine Quote von über 99 % haben. Aber was uns wirklich am stärksten mit Stolz erfüllt, ist die Tatsache, dass der Algorithmus bei den realen Daten unserer Kunden außergewöhnlich gut abschneidet. Wir konzentrieren uns nicht nur ausschließlich auf die Technologie, sondern auch auf ihre korrekte Implementierung, damit sie die Arbeit der Klinikärzte optimal unterstützt.

Was macht die von Cardiomatics entwickelte KI-gesteuerte und cloudbasierte EKG-Analyse zu einer zuverlässigen Lösung für Krankenhäuser?

Cardiomatics ist als Medizinprodukt der Klasse IIa zertifiziert. Dies ist die gleiche Klasse wie der überwiegende Teil der Hardware in Krankenhäusern. Das bedeutet, dass unsere Software aus regulatorischer Sicht Teil aller medizinischen Verfahren sein kann. Wir verwenden ein Pay-per-Use-Geschäftsmodell, was bedeutet, dass der Kunde nur dann bezahlt, wenn er unsere Algorithmen tatsächlich verwendet. Krankenhäuser können 100 % der Kosten für Cardiomatics durch Erstattung übernehmen.

Kliniken, die Cardiomatics einsetzen, sind effizienter als solche, die diese Möglichkeit nicht nutzen, weil so die Zeit der Kardiologen besser eingeteilt werden kann. Auch der Patient kann davon profitieren – die Wartezeiten auf Untersuchungsergebnisse verkürzen sich und die psychische Belastung durch Unsicherheit wird reduziert. Auch hier muss ich erneut auf die entscheidende Rolle der richtigen Zusammenarbeit bei der Einbindung des KI-Instruments in die Arbeitsroutinen hinweisen. Wir bieten unsere Algorithmen nicht in einer Box an, die Sie einfach auspacken können und nur einschalten müssen, damit ein Wunder geschieht.

Wie groß ist der Anwendungsbereich für Ihre Lösung?

Derzeit nutzen mehr als 100 Einrichtungen Cardiomatics täglich in ganz Europa, die meisten davon befinden sich in den Ländern der DACH-Region. Sie reichen von kleinen Praxen mit 2-3 Kardiologen bis hin zu Klinikverbünden. Cardiomatics wird auch von akademischen Klinikärzten als zuverlässiges Instrument anerkannt und von der Universität Bern als Forschungsinstrument eingesetzt.

Wie wird das Instrument verbessert und auf welche Weise wird es in Zukunft weiterentwickelt werden?

Cardiomatics besteht aus Algorithmen und einer Benutzeranwendung. Der Algorithmus verbessert sich, wenn er auf Patientengruppen angewendet wird. Derzeit konzentrieren wir uns auf die Erkennung von Arrhythmien, aber wir werden im Jahr 2020 Algorithmen für Patienten mit implantierbaren Geräten oder für Patienten nach Ablation einsetzen. Wir arbeiten auch kontinuierlich an der Verbesserung der Leistung der bestehenden Module, hauptsächlich durch die Erweiterung des Trainingsdatensatzes und den Einsatz immer fortschrittlicherer Modellierungsmethoden.

Die zum Trainieren der Algorithmen verwendeten Daten stammen aus zwei verschiedenen Quellen. Mit Stand August 2019 verfügen wir fast 100 000 Stunden an Mehrkanal-EKG-Aufzeichnungen (oder anders gesagt: über 400 Millionen Herzschläge) in unserer Datenbank; ein erheblicher Teil dieser Daten wird verwendet, um die Modelle zu trainieren (entweder in überwachten oder nicht überwachten Paradigmen). Einige von ihnen bestellen wir kommerziell in kooperierenden Kliniken (z. B. der Medizinischen Universität Warschau), um dadurch einige, weniger häufig auftretende Patientengruppen abzudecken.

Vielen Dank, dass Sie sich für uns Zeit genommen haben.

 

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